Toll! Und völlig unverquast. Nur als Apetizer. Unbedingt ganz lesen!
"1. Die fehlende Ausbildung des Strafrichters
Die
fehlende Ausbildung des Strafrichters, und der Strafrichter ist hier
nicht im prozessualen Sinn gemeint, er reicht vom Einzelrichter bis zu
den Mitgliedern der Revisionssenate, sie stellt eines der größten
Probleme auf dem Weg zur Erforschung der Wahrheit dar. Der Mangel ist
besonders eklatant im Bereich der Beurteilung von Zeugenaussagen, des
immer noch wichtigsten und dabei umstrittensten Beweismittels.
Dass über diese evidente Tatsache mittlerweile nicht einmal mehr diskutiert wird, ist rational kaum nachvollziehbar. Welcher Patient würde es beispielsweise akzeptieren, dass ihm sein Zahnarzt erklärt,
er habe zwar in seiner Ausbildung noch keinen Zahn selbst gezogen, er
habe aber davon gehört und er freue sich darauf, das Prinzip "learning
by doing" nunmehr in Angriff zu nehmen?
Dabei ist die
Klage über die mangelhafte Ausbildung des Strafrichters keineswegs neu;
sie ist heute nur fast in Vergessenheit geraten.
So bedauert
Gustav Radbruch schon im Jahre 1949 in seinem Aufsatz über "Fachliche
und charakterliche Voraussetzungen des Rechtsberufes", dass "die
Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen während des Studiums in
keiner Weise geübt wird" und " ... die vorgelegten Rechtsfälle nur eine
Rechtsanwendung am Phantom bedeuten".[...]
http://www.endriss-kollegen.de/Eroeffnungsrede%20Strafverteidigertag%202011.pdf
oder:
http://www.strafverteidigervereinigungen.org/Strafverteidigertage/Material%20Strafverteidigertage/vortrag%20malek.htm
"Die Klagen über die Unzuverlässigkeit des Zeugenbeweises wollen
kein Ende nehmen ... und doch hat dieser mangelhafte Zeugenbeweis seine
überragende Bedeutung für das Gerichtsverfahren nahezu unangefochten
behalten ... Verbessern aber ließe sich die Treffsicherheit der
Beurteilung von Zeugenaussagen, wenn die Wissenschaft von der
Aussagepsychologie energischer vorangetrieben würde, wenn die Juristen
schon auf der Universität mit der Aussageforschung vertraut gemacht und
ihr hier gewonnenes Wissen durch wissenschaftliche Ausbildungs- und
Fortbildungskurse vertieft würde." Diese Feststellung stammt aus dem
Jahr 1981.
14 Jahre später, 1995, werden die Autoren in der zweiten Auflage des selben Werkes noch deutlicher:
"Die
Glaubwürdigkeit- und Beweislehre ist seit dem Erscheinen der ersten
Auflage für die gerichtliche Praxis sehr viel wichtiger geworden, weil
die höchstrichterliche Rechtsprechung an die Beweiswürdigung der
Instanzgerichte erhöhte Anforderungen stellt ... umso verwunderlicher
ist es, dass die Justizministerien der Länder der Ausbildung der
angehenden Juristen im Fach "forensische Aussagepsychologie" noch immer
kaum Beachtung schenken. Künftige Richter und Rechtsanwälte lernen noch
immer fast nur Rechtsanwendung, nichts als Rechtsanwendung."
Dieser Klage muss man leider beipflichten.
Und
dabei wird der Tatbestand noch verharmlost, wenn von einer mangelhaften
Ausbildung des Strafrichters auf dem Gebiet der Tatsachenfeststellung
gesprochen wird. Es ist die fehlende Ausbildung, die die Wahrheitssuche
erschwert. Vom ersten Tag seines Studiums bis zum letzten Tag des
Assessorexamens hat es der angehende Strafjurist, natürlich auch der
zukünftige Strafverteidiger, mit vorgefertigten Sachverhalten zu tun, an
denen nicht zu rütteln ist, und die in Frage zu stellen, den typischen
juristischen Laien entlarvt."
[...]
http://www.endriss-kollegen.de/Eroeffnungsrede%20Strafverteidigertag%202011.pdf
oder:
http://www.strafverteidigervereinigungen.org/Strafverteidigertage/Material%20Strafverteidigertage/vortrag%20malek.htm
Eine solche Ausbildung, die sich ausschließlich mit
vorgefertigten Sachverhalten und niemals, und ich behaupte, es geschieht
niemals, wenn nicht auf freiwilliger und nicht examinierter Basis, mit
der Problematik der Wahrheitserforschung befasst, hat den angehenden
Strafrichter, bevor er sich an seine - laut höchstrichterlicher
Rechtsprechung - "ureigenste Aufgabe" macht, bereits tief geprägt. Wir
Verteidiger erleben dies laufend. Ein aktuelles Beispiel aus der Praxis
gefällig?[...]
"Föhrig wird nicht aufgehoben", schreibt etwa Monika Harms im Vorwort
zum mittlerweile mit Kultstatus versehenen Kleinen Strafrichterbrevier
des ehemaligen Kammervorsitzenden Friedrich-Karl Föhrig und lobt die
Standfestigkeit seiner Urteile gegenüber der revisionsgerichtlichen
Überprüfung. Für mich ein Lob mit einem faden Beigeschmack. Das
Lob, ein Vorsitzender habe sich vor allem dadurch ausgezeichnet, dass er
durch besondere Kenntnisse der Aussagepsychologie so manches Fehlurteil
vermieden habe, ein solches Lob habe ich dagegen noch in keiner
Laudatio gelesen.
Der Hinweis darauf, der
angehende Strafjurist habe doch alle Möglichkeiten, sich in
Eigeninitiative fortzubilden, verfängt nicht. Mit diesem Argument könnte
man auch gleich die ganze universitäre Ausbildung samt Prüfungen
abschaffen und die Angelegenheit dem Repetitor überlassen. Im Übrigen
scheint es aber auch mit der Eigeninitiative so weit nicht her zu sein,
wenn man die Klagen der Justizministerien über die fehlende
Inanspruchnahme von Ausbildungsangeboten zur Kenntnis nimmt."
[...]
http://www.strafverteidigervereinigungen.org/Strafverteidigertage/Material%20Strafverteidigertage/vortrag%20malek.htm
Nutzen wir die Möglichkeiten, die uns verbleiben, auch wenn
diese nicht zahlreich sind. Machen wir uns stark gegen die weitere
Erosion unseres Strafprozessrechtes durch Übernahme von
"Erledigungsformen", die unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit
widersprechen. Machen wir uns auch stark für eine Prozesskultur, die
wenigsten, ich betone: wenigstens, die Regeln einhält, die selbst nach
dem zumindest teilweisen Abschied von der Wahrheitssuche noch verblieben
sind.
Wehret den Anfängen, kann ich nicht mehr sagen, aber wehret zumindest der Fortsetzung!
Ich bedanke mich für Ihr Interesse oder zumindest für Ihre Geduld.
http://www.endriss-kollegen.de/Eroeffnungsrede%20Strafverteidigertag%202011.pdf
oder:
http://www.strafverteidigervereinigungen.org/Strafverteidigertage/Material%20Strafverteidigertage/vortrag%20malek.htm
Dazu paßt:
REZENSION in kriminalistik.de/literatur.htm vom 19. August 2012
Uneingeschränkt lesenswertGabriele Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, 2. Auflage 2012,
C.F. Müller, 410 S. kart, 44,95 Euro
Der
Versuch, das erforderliche Knowhow für eine (Zeugen-)Vernehmung, die
Würdigung von Aussagen und die Qualitätsstandards von
Glaubhaftigkeitsgutachten zu vermitteln, stellt jeden Autor vor eine
Herausforderung; dies gilt insbesondere bei einer primär an Juristen
gerichteten Veröffentlichung, da im Strafverfahren beteiligte Personen
diese Materie nie erlernt haben und sie (scheinbar) von Natur aus
beherrschen.
Die in der Reihe „Praxis der Strafverteidigung“ (erneut)
in einem neuen Outfit erschienene 2. Auflage richtet sich primär an
Strafverteidiger, die durch die Lektüre lernen, dass die Standardfloskel
„Das Gericht hätte keinen Zweifel an der Richtigkeit der Aussage des …“
grottenfalsch und revisibel ist. Die Äußerung, es gebe keine
Anhaltspunkte dafür, an der Aussage zu zweifeln, verdeutlicht den
unzutreffenden Gedankengang ebenso wie die gern gestellte Frage, wie man
die Lüge enttarnen kann.
Aus der aktuellen – auch bekannteren –
Rechtsprechung sei der Ermittlungsrichter im sogenannten
„Kachelmann-Verfahren“ zitiert; dieser soll gesagt haben, „dass er davon
ausgehe, dass jemand, der einen anderen einer Straftat bezichtigt,
wahrheitsgemäße Angaben macht“ (Quelle: Die Zeit vom 24.02.2011). Damit
ist exemplarisch die verbale Ignoranz der Juristen gegenüber
aussagepsychologischen Erkenntnissen hinreichend dokumentiert; an dieser
Stelle greifen dann Publikationen, die sich mit Vernehmungen und der
sogenannten Nullhypothese beschäftigen, hilfreich ein – bzw. versuchen
[sic!] dies.[...]
Zum anderen darf der Kriminalist
allerdings
keinesfalls die Ausführungen von Jansen etwa zur Vernehmung „besonderer
Zeugen“, zu denen auch Vernehmungsbeamte zählen, ignorieren: Die hier
auf 2 ½ Druckseiten veröffentlichte „Checkliste zur Befragung des
Vernehmungsbeamten“ (Rn. 152) dürfte im realen Gerichtsalltag – ist
dieser darauf nicht vorbereitet – manchem Kriminalisten den Schweiß auf
die Stirn treiben; gleiches gilt für den Fragenkatalog, der sich mit der
Protokollerstellung beschäftigt (Rn. 282; zur Situation des Beamten in
der Zeugenrolle vgl. auch: Artkämper, Polizeibeamte als Zeugen vor
Gericht, 2. Auflage 2011). Die Veröffentlichung ist insgesamt sowohl als Einstiegslektüre als auch – primär –
Nachschlagewerk auch für die Ermittler im strafrechtlichen Vorverfahren uneingeschränkt lesenswert.http://www.expertise-gutachten-falschaussage.com/zeuge-und-aussagepsychologie/