Bundesfamilienministerin Kristina Schröder hat ein schweres Erbe angetreten: Sie muss den von Ursula von der Leyen durchgesetzten Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem 2. Lebensjahr von Kindern gewährleisten (1). Um diesen Rechtsanspruch einzulösen sollen bis 2013 insgesamt 750.000 Betreuungsplätze geschaffen werden. Diese Vorgaben begründet das Bundesfamilienministerium mit dem Ziel, für jedes dritte Kind unter drei Jahren einen Betreuungsplatz anzubieten. Nun leuchtet es kaum ein, dass lediglich ein Drittel der potentiell Berechtigten einen rechtsverbindlichen Anspruch nutzen sollte (2). Wie sich leicht berechnen lässt, entsprechen 750.000 Plätze auch einer Betreuungsquote von zwei Dritteln der 1-3-jährigen (3). Für Westdeutschland bedeutete dies eine grundlegende Systemveränderung: Statt in der Familie würde die Mehrheit der kleinen Kinder immer mehr in Institutionen aufwachsen (4).
Dies ist die Konsequenz des seit 2003 von der Bundesregierung vorangetriebenen Paradigmenwechsels zu einer „nachhaltigen" Familienpolitik. Zentrale Ziele dieser Politik sind eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, eine höhere Geburtenrate von 1,7 Kindern pro Frau und ein besseres Bildungsniveau durch die institutionelle „Frühförderung" von Kindern (5). In den Medien sowie bei Arbeitgebern und Gewerkschaften stieß diese Politik auf viel Beifall. Länder und Kommunen konnten (und wollten) sich diesem Meinungsklima nicht entziehen: Trotz leerer Kassen stellten sie Milliarden für den von ihnen praktisch umzusetzenden Betreuungsausbau bereit. Wer dessen Finanzierbarkeit bezweifelt, stellt sich politisch ins Abseits. Harte ökonomische Argumente sind hier ausnahmsweise einmal nicht erwünscht (6). Dabei war die neue Familienpolitik bisher schon teuer: So überstiegen etwa die Kosten für das Elterngeld die Planungen. Der erhoffte Impuls für die Geburten blieb dennoch aus. Wegen seiner „Wirkungslosigkeit" steht das Elterngeld nun in der Kritik: Erste Kürzungen ab 2011 sind beschlossen und weitere Einschnitte werden gefordert (7). Dagegen sind Abstriche am Ausbau der Kinderbetreuung (noch) tabu. Allerdings wandelt sich die politische Argumentation: Vom Ziel einer höheren Geburtenrate ist nun nicht mehr die Rede. Umso mehr betont die Bundesregierung dafür das Anliegen einer besseren frühkindlichen Bildung, besonders für sozial benachteiligte Kinder. Um beurteilen zu können, ob der Betreuungsausbau effektiv diesem Ziel dient, wären Langzeitstudien erforderlich. Da es an diesen fehlt, lässt sich der Bildungsanspruch der „nachhaltigen" Familienpolitik (im Gegensatz zum Geburtenziel) nicht mit „harten Fakten" überprüfen. Da Bildung als Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg gilt, immunisiert diese Argumentation den Betreuungsausbau gegen Kritik. Dies ist umso wirksamer, als die Medien den Glauben an die frühkindliche Bildung missionarisch verbreiten (8).
Dass sich um einen Mythos handelt, zeigt die einschlägige Forschung: Denn institutionelle Betreuung wirkt sich, wie Langzeitstudien belegen, nur bei hoher Qualität positiv auf die kognitive Entwicklung von Kindern aus (9). Ein zentrales Qualitätsmerkmal sind kleine Gruppen, die es den Erzieherinnen erlauben individuelle Bindungen zu den Kindern aufzubauen. Solche Betreuungsverhältnisse sind jedoch gerade in den westdeutschen Kindertagesstätten mit vielen Kindern aus schwierigen Verhältnissen selten gewährleistet. Bildungsanspruch und Betreuungsrealität klaffen oft weit auseinander (10). Selbst bei einer hohen Qualität der Kinderbetreuung bleibt eine gelungene Bindung zu den Eltern für Kinder die zentrale Entwicklungsressource. Diese Bindung leidet, wie Langzeitstudien bestätigen, unter zu früher und zu langer Trennung von den Eltern. Ganztägige institutionelle Betreuung von Kleinkindern ist keine „frühe Bildung", sondern ein Entwicklungsrisiko. Weniger ist hier oft mehr. Diese Erkenntnis widerstrebt der „nachhaltigen" Familienpolitik, die mehr institutionelle Kinderbetreuung stets für besser hält (11). Dieses obrigkeitsstaatliche Quantitätsdenken ist nicht nur finanziell teuer, sondern behindert auch eine entwicklungsgerechte Erziehung und Bildung von Kindern. Es ist sicher die schwerste Hinterlassenschaft, die Kristina Schröder von ihren Amtsvorgängerinnen geerbt hat.
(1) In den letzten Monaten hat Kristina Schröder mehrfach bekräftigt, an den von ihrer Vorgängerin durchgesetzten Betreuungsausbauzielen und dem Rechtsanspruch festzuhalten. Beispielhaft hierfür: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): Kristina Schröder: „Kita-Ausbauziel ist realistisch", Pressemitteilung vom 21.7.2010, http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/kinder-und-jugend,did=150320.html.
(2) Insofern ist die Kritik der Bundestagsopposition an der aus ihrer Sicht zu niedrigen Betreuungsquote von 35% nachvollziehbar. Erst recht gilt dies für ihre Zweifel hinsichtlich der Finanzierung des Krippenausbaus durch die Kommunen. In ihrer Antwort auf eine diesbezügliche Anfrage der GRÜNEN empfiehlt die Bundesregierung den Ländern, indirekt Mittel aus dem Konjunkturpaket II zur „Bewältigung der Herausforderungen der Finanzkrise" für die „frühkindliche Infrastruktur" einzusetzen. Indirekt räumt sie damit ein, dass die ursprünglich vorgesehenen Mittel nicht ausreichen um die vereinbarten Ziele zu erreichen. Vgl.: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/DIE Grünen zu Bedarf, Finanzierung und Qualität der Kindertagesbetreuung, Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode, Drucksache 17/895S vom 3.3.2010, S. 2.
(3) Siehe hierzu: http://www.i-daf.org/253-0-Woche-48-2009.html.
(4) Der Direktor des Deutschen Jugendinstituts stellt zum Krippenausbau fest: „In Verbindung mit dem weiteren Ausbau der Ganztagsschulen werden sich damit in Westdeutschland die Prozesse der Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern weiter in den öffentlichen Raum von Kindertageseinrichtungen und Schulen, weiter in die Hände von pädagogischen Fachkräften verlagern." Vgl.: Thomas Rauschenbach/Matthias Schilling: Demografie und frühe Kindheit. Prognosen zum Platz- und Personalbedarf in der Kindertagesbetreuung, S. 17-36, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 55 - Heft 1, Januar-Februar 2009, S. 34. Offen ist bisher, inwiefern sich die „Kinderbetreuungskultur" in Westdeutschland der in Ostdeutschland angleicht. Zu den bisherigen Gegensätzen siehe Abbildungen unten „Ganztagsbetreuung von Kleinkindern in Deutschland".
(5) Vgl.: Malte Ristau: Der ökonomische Charme der Familie, S. 18-24, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 23-24 2005 sowie: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Perspektive für eine nachhaltige Familienpolitik. Ergebnisse des Gutachtens von Eckart Bomsdorf, Berlin 2005.
(6) Dies zeigten sehr deutlich die Reaktionen auf diesbezügliche Überlegungen des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch im Mai 2010. Vgl. hierzu das durch Internetrecherche gut nachvollziehbare Presseecho.
(7) An der Diskussion um das Elterngeld zeigt sich, wie problematisch es ist, familienpolitische Maßnahmen mit quantitativ definierten Zielen (Geburtenrate, Frauenerwerbsquote) zu begründen: Werden diese Ziele verfehlt, gelten auch die Maßnahmen selber schnell als verfehlt. In diesem Sinne fordern Pressestimmen das Elterngeld wieder abzuschaffen. Als Beispiel: Heike Göbel: Elterngeld abschaffen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.04.2010. Die negativen Folgen von Leistungskürzungen für Familien werden dabei meist übersehen. Siehe hierzu: http://www.i-daf.org/310-0-Wochen-23-24-2010.html.
(8) In diesem Sinne suggerieren viele Beiträge auch in der sogenannten „Qualitätspresse", dass Kinder, zumindest wenn sie aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen, möglichst früh und möglichst lange öffentlich betreut werden müssten, um ihre Chancen in Ausbildung und Beruf zu verbessern. Beispielhaft hierfür: Mehr Bildung für Hartz-IV-Kinder, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Februar 2010, S. 11.
(9) Vgl.: Fabienne Becker-Stoll: Kindeswohl und Fremdbetreuung, S. 77-81, in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht, 57. Jahrgang/Heft 2, Januar 2010, S. 79.
(10) Hierzu Becker-Stoll: „Sichere Erzieherin-Kind-Bindungen entstehen in Kindergruppen, in denen die Gruppenatmosphäre durch ein emphatisches Erzieherverhalten bestimmt wird [...]. Dieses Erzieherverhalten bildet sich insbesondere in kleinen und stabilen Gruppen aus. [..] Neuere Untersuchungen [...] zeigen, dass zwar die Anforderungen an die Kindertageseinrichtungen im Zuge der Einführung von Bildungsplänen immens gestiegen sind, dass aber die Ressourcen, die in Kindertageseinrichtungen für die Umsetzung der Bildungspläne und für eine qualitativ hochwertige Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern zur Verfügung stehen, zurückgehen. Hier klaffen - gerade auch im Zusammenhang mit dem Ausbau der Plätze für Kinder unter drei Jahren - Anspruch und Wirklichkeit immer mehr auseinander." Vgl. ebenda.
(11) Becker-Stoll kommt zu dem Schluss: „Nur bei bester Qualität der außerfamiliären Betreuung ist eine Ganztagsbetreuung selbst bei einem Schulkind vertretbar - es muss noch genügend Zeit und Kraft für die Eltern-Kind-Beziehung bleiben (sowohl von den berufstätigen Eltern als auch vom Kind aus gesehen). Die Familie stellt nicht nur in den ersten Lebensjahren die wichtigste Ressource für die kindliche Entwicklung dar." Ebenda, S. 80. Selbst im Schulalter ist also eine Ganztagsbetreuung von Kindern außerhalb der Familie nicht wünschenswert, sondern allenfalls „vertretbar". Diese Experteneinschätzung der Leiterin (!) des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu der in Politik und Medien vorherrschenden Perzeption der Ganztagsbetreuung als bildungspolitischer Notwendigkeit.
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