Donnerstag, 20. September 2012

Nachlese: (Der lange) "Abschied von der Wahrheitssuche ..."

Toll! Und völlig unverquast. Nur als Apetizer. Unbedingt ganz lesen!  
 "1. Die fehlende Ausbildung des Strafrichters

Die fehlende Ausbildung des Strafrichters, und der Strafrichter ist hier nicht im prozessualen Sinn gemeint, er reicht vom Einzelrichter bis zu den Mitgliedern der Revisionssenate, sie stellt eines der größten Probleme auf dem Weg zur Erforschung der Wahrheit dar. Der Mangel ist besonders eklatant im Bereich der Beurteilung von Zeugenaussagen, des immer noch wichtigsten und dabei umstrittensten Beweismittels. Dass über diese evidente Tatsache mittlerweile nicht einmal mehr diskutiert wird, ist rational kaum nachvollziehbar. Welcher Patient würde es beispielsweise akzeptieren, dass ihm sein Zahnarzt erklärt, er habe zwar in seiner Ausbildung noch keinen Zahn selbst gezogen, er habe aber davon gehört und er freue sich darauf, das Prinzip "learning by doing" nunmehr in Angriff zu nehmen?

Dabei ist die Klage über die mangelhafte Ausbildung des Strafrichters keineswegs neu; sie ist heute nur fast in Vergessenheit geraten.

So bedauert Gustav Radbruch schon im Jahre 1949 in seinem Aufsatz über "Fachliche und charakterliche Voraussetzungen des Rechtsberufes", dass "die Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen während des Studiums in keiner Weise geübt wird" und " ... die vorgelegten Rechtsfälle nur eine Rechtsanwendung am Phantom bedeuten".[...]

http://www.endriss-kollegen.de/Eroeffnungsrede%20Strafverteidigertag%202011.pdf
oder:
http://www.strafverteidigervereinigungen.org/Strafverteidigertage/Material%20Strafverteidigertage/vortrag%20malek.htm

"Die Klagen über die Unzuverlässigkeit des Zeugenbeweises wollen kein Ende nehmen ... und doch hat dieser mangelhafte Zeugenbeweis seine überragende Bedeutung für das Gerichtsverfahren nahezu unangefochten behalten ... Verbessern aber ließe sich die Treffsicherheit der Beurteilung von Zeugenaussagen, wenn die Wissenschaft von der Aussagepsychologie energischer vorangetrieben würde, wenn die Juristen schon auf der Universität mit der Aussageforschung vertraut gemacht und ihr hier gewonnenes Wissen durch wissenschaftliche Ausbildungs- und Fortbildungskurse vertieft würde." Diese Feststellung stammt aus dem Jahr 1981.

14 Jahre später, 1995, werden die Autoren in der zweiten Auflage des selben Werkes noch deutlicher:

"Die Glaubwürdigkeit- und Beweislehre ist seit dem Erscheinen der ersten Auflage für die gerichtliche Praxis sehr viel wichtiger geworden, weil die höchstrichterliche Rechtsprechung an die Beweiswürdigung der Instanzgerichte erhöhte Anforderungen stellt ... umso verwunderlicher ist es, dass die Justizministerien der Länder der Ausbildung der angehenden Juristen im Fach "forensische Aussagepsychologie" noch immer kaum Beachtung schenken. Künftige Richter und Rechtsanwälte lernen noch immer fast nur Rechtsanwendung, nichts als Rechtsanwendung."

Dieser Klage muss man leider beipflichten.

Und dabei wird der Tatbestand noch verharmlost, wenn von einer mangelhaften Ausbildung des Strafrichters auf dem Gebiet der Tatsachenfeststellung gesprochen wird. Es ist die fehlende Ausbildung, die die Wahrheitssuche erschwert. Vom ersten Tag seines Studiums bis zum letzten Tag des Assessorexamens hat es der angehende Strafjurist, natürlich auch der zukünftige Strafverteidiger, mit vorgefertigten Sachverhalten zu tun, an denen nicht zu rütteln ist, und die in Frage zu stellen, den typischen juristischen Laien entlarvt."
[...]

http://www.endriss-kollegen.de/Eroeffnungsrede%20Strafverteidigertag%202011.pdf
oder:
http://www.strafverteidigervereinigungen.org/Strafverteidigertage/Material%20Strafverteidigertage/vortrag%20malek.htm

Eine solche Ausbildung, die sich ausschließlich mit vorgefertigten Sachverhalten und niemals, und ich behaupte, es geschieht niemals, wenn nicht auf freiwilliger und nicht examinierter Basis, mit der Problematik der Wahrheitserforschung befasst, hat den angehenden Strafrichter, bevor er sich an seine - laut höchstrichterlicher Rechtsprechung - "ureigenste Aufgabe" macht, bereits tief geprägt. Wir Verteidiger erleben dies laufend. Ein aktuelles Beispiel aus der Praxis gefällig?[...]
"Föhrig wird nicht aufgehoben", schreibt etwa Monika Harms im Vorwort zum mittlerweile mit Kultstatus versehenen Kleinen Strafrichterbrevier des ehemaligen Kammervorsitzenden Friedrich-Karl Föhrig und lobt die Standfestigkeit seiner Urteile gegenüber der revisionsgerichtlichen Überprüfung. Für mich ein Lob mit einem faden Beigeschmack. Das Lob, ein Vorsitzender habe sich vor allem dadurch ausgezeichnet, dass er durch besondere Kenntnisse der Aussagepsychologie so manches Fehlurteil vermieden habe, ein solches Lob habe ich dagegen noch in keiner Laudatio gelesen.
Der Hinweis darauf, der angehende Strafjurist habe doch alle Möglichkeiten, sich in Eigeninitiative fortzubilden, verfängt nicht. Mit diesem Argument könnte man auch gleich die ganze universitäre Ausbildung samt Prüfungen abschaffen und die Angelegenheit dem Repetitor überlassen. Im Übrigen scheint es aber auch mit der Eigeninitiative so weit nicht her zu sein, wenn man die Klagen der Justizministerien über die fehlende Inanspruchnahme von Ausbildungsangeboten zur Kenntnis nimmt."

[...]
 http://www.strafverteidigervereinigungen.org/Strafverteidigertage/Material%20Strafverteidigertage/vortrag%20malek.htm  
Nutzen wir die Möglichkeiten, die uns verbleiben, auch wenn diese nicht zahlreich sind. Machen wir uns stark gegen die weitere Erosion unseres Strafprozessrechtes durch Übernahme von "Erledigungsformen", die unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit widersprechen. Machen wir uns auch stark für eine Prozesskultur, die wenigsten, ich betone: wenigstens, die Regeln einhält, die selbst nach dem zumindest teilweisen Abschied von der Wahrheitssuche noch verblieben sind.

Wehret den Anfängen, kann ich nicht mehr sagen, aber wehret zumindest der Fortsetzung!


Ich bedanke mich für Ihr Interesse oder zumindest für Ihre Geduld.
http://www.endriss-kollegen.de/Eroeffnungsrede%20Strafverteidigertag%202011.pdf
oder:
http://www.strafverteidigervereinigungen.org/Strafverteidigertage/Material%20Strafverteidigertage/vortrag%20malek.htm
Dazu paßt:
REZENSION in kriminalistik.de/literatur.htm vom 19. August 2012

Uneingeschränkt lesenswert

Gabriele Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, 2. Auflage 2012,
C.F. Müller, 410 S. kart, 44,95 Euro

Der Versuch, das erforderliche Knowhow für eine (Zeugen-)Vernehmung, die Würdigung von Aussagen und die Qualitätsstandards von Glaubhaftigkeitsgutachten zu vermitteln, stellt jeden Autor vor eine Herausforderung; dies gilt insbesondere bei einer primär an Juristen gerichteten Veröffentlichung, da im Strafverfahren beteiligte Personen diese Materie nie erlernt haben und sie (scheinbar) von Natur aus beherrschen.
Die in der Reihe „Praxis der Strafverteidigung“ (erneut) in einem neuen Outfit erschienene 2. Auflage richtet sich primär an Strafverteidiger, die durch die Lektüre lernen, dass die Standardfloskel „Das Gericht hätte keinen Zweifel an der Richtigkeit der Aussage des …“ grottenfalsch und revisibel ist. Die Äußerung, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, an der Aussage zu zweifeln, verdeutlicht den unzutreffenden Gedankengang ebenso wie die gern gestellte Frage, wie man die Lüge enttarnen kann. Aus der aktuellen – auch bekannteren – Rechtsprechung sei der Ermittlungsrichter im sogenannten „Kachelmann-Verfahren“ zitiert; dieser soll gesagt haben, „dass er davon ausgehe, dass jemand, der einen anderen einer Straftat bezichtigt, wahrheitsgemäße Angaben macht“ (Quelle: Die Zeit vom 24.02.2011). Damit ist exemplarisch die verbale Ignoranz der Juristen gegenüber aussagepsychologischen Erkenntnissen hinreichend dokumentiert; an dieser Stelle greifen dann Publikationen, die sich mit Vernehmungen und der sogenannten Nullhypothese beschäftigen, hilfreich ein – bzw. versuchen [sic!] dies.
[...]
Zum anderen darf der Kriminalist allerdings keinesfalls die Ausführungen von Jansen etwa zur Vernehmung „besonderer Zeugen“, zu denen auch Vernehmungsbeamte zählen, ignorieren: Die hier auf 2 ½ Druckseiten veröffentlichte „Checkliste zur Befragung des Vernehmungsbeamten“ (Rn. 152) dürfte im realen Gerichtsalltag – ist dieser darauf nicht vorbereitet – manchem Kriminalisten den Schweiß auf die Stirn treiben; gleiches gilt für den Fragenkatalog, der sich mit der Protokollerstellung beschäftigt (Rn. 282; zur Situation des Beamten in der Zeugenrolle vgl. auch: Artkämper, Polizeibeamte als Zeugen vor Gericht, 2. Auflage 2011). Die Veröffentlichung ist insgesamt sowohl als Einstiegslektüre als auch – primär – Nachschlagewerk auch für die Ermittler im strafrechtlichen Vorverfahren uneingeschränkt lesenswert.

http://www.expertise-gutachten-falschaussage.com/zeuge-und-aussagepsychologie/

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