»Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat.«
Nietzsche.
Tausend Jahre Zeitungen — es ist ein Gedanke, den man nur mit Grauen denken mag! Wird es, kann es nach dreißig Generationen von Zeitungslesern noch eine Vernunft, einen Geist auf Erden geben? Einen Geist, der mehr ist als die tote, verschliffene Hülse geistloser Gemeinheit? Die schlimmsten Befürchtungen sind hier immer noch nicht schlimm genug.
Gab es jemals ein glänzenderes Geschäft? Der hungernde Philister versagt sich ein Stück Brot, um ein Zeitungsblatt zu kaufen. Heute bereits ist die Lesemanie so allgemein verbreitet, daß die meisten Menschen einen Großteil ihrer Muße mit dem Verschlingen von Nachrichten und Betrachtungen ausfüllen, zu denen sie nicht die geringste innere Beziehung haben.
Sie verschlingen die fragwürdigste geistige Kost ohne jede Not und ohne jede Möglichkeit der Verdauung, die schon wegen der übermäßigen Quantitäten ausgeschlossen ist, auch wenn die Nahrung selbst verdaulich wäre. Gibt es ein besseres Rezept zur schnellsten Erlangung der gründlichsten Stupidität?
Und nun denke man an die Folgen dieser immer mehr sich verbreitenden und immer intensiver sich gestaltenden Praxis nach tausend Jahren! …
Die Bildung ersetzt der Tagschreiber durch ein spezifisches Gedächtnis, durch ein Notizbuch oder einen Zettelkasten. Aus aufgeschnappten Namen und Aussprüchen, schlechtgehörten Urteilen und schlechtgelesenen Berichten, zusammenhangslosen Begriffen und Historien, aus schiefgesehenen Tatsachen, aus fünfzig gangbaren Phrasen und mit dem Zubehör des eigenen Fetzenwissens webt er die Ellen seiner Arbeit. Man darf billigerweise nicht übersehen, daß auch unser moderner Schulmechanismus kein anderes als ein solches Phrasenwissen hervorbringt, daß die Schule alles tut, die unheilvolle Verwechslung von Bildung (d. h. Zucht der Sinne und des Intellekts,um richtig sehen und denken zu lernen) mit wertlosem Gedächtnisballast und papageienhafter Nachplapperei vorzubereiten. Die Schule, die von jeder Ecke der Welt einen Theoriefetzen und von jedem Ding wenigstens den Namen in uns hineinstopfen will, verführt die Masse dazu, die Zeitungslektüre für die natürlichste Fortsetzung der »Bildung« zuhalten. Der Tagschreiber hält heute den Posten für »Ausbau der Bildung« besetzt. Die Zeitung ist das Schulbuch der Erwachsenen. Und der Tagschreiber ist der Lehrer der großen Masse.
Und wir ergötzen uns an dem Hastigen, Flimmernden, Unruhigen, Flüchtigen und Halbgesehenen …
der Gischt der Unmittelbarkeit, ist aber gerade das Noch-nicht-zu-Beurteilende, ist dasjenige, was von einem Betrachter, der die Wahrheit und das Wesen einer Sache zu ergründen sucht, mit der feinfühligsten Behutsamkeit und dem kühlsten Mißtrauen aufgenommen werden muß. Dem Tagschreiber ist es
nicht im geringsten um die Wahrheit zu tun — er führt dieses Wort, wie alle schönen Worte, im Munde —, sondern nur um Urteile überhaupt, um Urteile, die lediglich durch die Aktualität der beurteilten Substanz interessieren. Was weiß er von der vorsichtigen Gelassenheit, mit der ein geschulter Denker seinem Problem gegenübertritt, von der unbeirrbaren Geduld und zarten Unerbittlichkeit, mit der er es allmählig entwirrt und faßlich macht? Wie hätte der Schreiber des Tages auch nur die Muße zu wirklicher Denkarbeit! Er hat zu schreiben, nicht zu denken. Er kriecht auf den schwierigsten Problemen so geschäftig herum wie die Made auf dem Käse, um sich davon zu nähren und sie überdies noch zu beschmutzen. Der Ernst einer Sache schreckt ihn niemals ab; er hat nur einen Ernst: mit den Brocken, die er der Masse hinwirft, ihren Geschmack zu treffen, vor der Masse recht zu behalten, maßgebend zu sein, eine Macht zu sein, mit der man sich verhalten muß! Er sagt mit Pilatus: Was ist Wahrheit! Er fühlt sich als Anwalt einer Majorität, er stützt sich nicht auf Gründe, sondern auf die Mode, auf das unisone Geschrei des Tages.
Es ist eine wenig erfreuliche Spezies Mensch, aus der die Tagschreiber sich rekrutieren. Es sind bestenfalls Menschen mit Ehrgeiz und Unternehmungslust ohne Rückgrat und Willen, Leute mit einem Zuviel an Phantastik und Überhebung, um es in einer bürgerlichen Nützlichkeitsexistenz auszuhalten, und mit einem Zuwenig an Verstandeskraft, Geschmack und Bildung, um im Geistigen und Kulturellen auch nur Kleines zu bedeuten. Es sind im bürgerlichen Sinne Deklassierte, im geistigen Sinne sterile Parasiten der wirklichen Bildung, Nebelgehirne, un-
disziplinierte Wildlinge mit Vandaleninstinkten. Wer irgendeine tiefere Bildung, wer auch nur das bescheidenste intellektuelle und ethische Reinlichkeitsgefühl besitzt, kann kein tauglicher Journalist werden.
Bildung ist nämlich ein Hindernis für die journalistische Fixigkeit, sie untergräbt die dreiste Selbstgefälligkeit, die über alles so leicht und sicher urteilt.
Bildung ist ein retardierendes Prinzip: die Erziehung zur Vorsicht im Urteil. Sie hält davon ab, einen Einzelfall bedenkenlos zu verallgemeinern oder eine Regel auf jeden Einzelfall zu beziehen. Die Bildung hat mit einem Wort Vorurteile, der Journalismus aber ist ‚vorurteilsfrei‘. Bildung verantwortet Urteile schwer und zögernd, der Journalismus verantwortet ohne weiteres alles und jedes. Mit wirklicher Bildung kein Journalist, mit wirklicher Bildung daher auch kein Schriftsteller, kein Dichter, kein Künstler, kein Gelehrter nach dem Herzen der Zeitungskritiker. Es ist leicht zu erraten, was für eine Art von Literatur, Kunst und Wissenschaft die Presse propagiert, was für Leute sie am begeistertsten lobt: Alles, was mit ihr ver-
der Schutz einzelner verbriefter (und trotz Presse meist eben nur verbriefter) persönlicher Freiheiten bedeuten gegen die scheußliche Tyrannei der Masse, welche gerade durch die Presse gefestigt und geheiligt wird! Schließlich steckt hinter jedem liberalen Ding immer ein Tyrann. Die öffentliche Meinung, die durch die Presse gemacht wird, ist die schlimmste Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit und die illiberalste aller Institutionen. Die Presse wird immer den Erfolg anbeten und — um selbst daran teilzunehmen — dem huldigen, der die Macht hat, oder dem, welchem die Macht winkt. Nein, die Presse hat nichts mit der Freiheit zu tun, die »freiheitliche« am
wenigsten! Und mögen Präsidenten, Minister, Zelebritäten und Streber sie noch so oft als segensreiche Macht verhimmeln! Sie wissen, warum sie’s tun ....
wie jener Frosch, der sich zum Ochsen aufblähen wollte, krepieren, noch ehe der menschliche Intellekt und die menschliche Würde ganz zuschanden werden. Eines aber wird schon in kurzer Zeit unwiederbringlich verloren sein: das lebendige Sprachgefühl. Der Tagschreiber, dem fast ausschließlich nur der Zufall Artikel diktiert, der sich für alles interessieren muß und daher für nichts interessiert, ist von vornherein zu einer affektierten Schreibweise verurteilt. Er schreibt nicht als Fachmann eines Gebietes, sondern über alles nach unzureichender Information. Er verwendet die Termini und Formeln aller Berufe und Wissenszweige, ohne deren Sinn zu kennen, er ist ein Ignorant, ein typischer Oberflächenmensch und drückt sich daher am liebsten verschwommen und zweideutig aus. Da er immer eine Parteimeinung zu verteidigen hat, ist seine Rede immer übertrieben, ist er — nolens, volens — ein Liebhaber des Extrem-Expressiven. Er beherrscht, da er keinen eigenen Stil haben kann,
alle Stilarten und hetzt jedes klingende Wort erbarmungslos zu Tode. Der Tagschreiber aber ist der
einzige, der von einer ungeheuren Majorität gelesen wird. Die totale Korruption des Wortes ist unabwendbar, wenn es nur noch drei Generationen Tagschreiber und Zeitungsleser geben wird. Denn die Zeitungsleser sind Wiederkäuer! Anschaulicher, als lange Reden es vermöchten, malt Nietzsches Gedichtchen »Das Wort« — selbst ein sprachliches Kleinod — das trübselige Geschick, mit dem Sprache und Wort von ihren Schmarotzern und Würgern bedroht werden. Dem frommen Wunsch, in den es ausklingt, stimmen alle besorgten Schützer der Kultur zu, denen der Tag nicht in Morgen- und Abendblatt zerfällt:
»Pfui allen häßlichen Gewerben,
An denen Wort und Wörtchen sterben!«Karl Hauer.
* * Es ist unzulässig, daß Leute der Wissenschaft Tiere zu
Tode quälen; mögen die Ärzte mit Journalisten und Politikern
experimentieren. Ibsen.
* Die Zeitungsschreiber haben sich ein hölzernes Kapellchen
erbaut, das sie auch den Tempel des Ruhms nennen, worin sie
den ganzen Tag Porträts anschlagen und abnehmen, und ein
Gehämmer machen, daß man sein eigenes Wort nicht hört.Lichtenberg.
DIE FACKEL (1907) gemeinfrei!
Mehr Interesse?
http://corpus1.aac.ac.at/fackel/vor 3 Stunden —Jetzt mit noch mehr Pointen/Humor: Noch mehr über mehr oder weniger feuchte Gebiete, Unschulds- und andere -vermutungen.... und den "Abmahnwahn der Medienanwälte" ... ;-) Neues von der asymmetrischen Kriegsführung im Falle des Freiwilds Jörg Kachelmann, das die BUNTE bis in die kanadischen Wäl…
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